Im Jahre 1993 veröffentlichte Andrzej Dudzicz, ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung Belgard, unter dem Titel „Jesienne epitafium“ in der Zeitung Glos Koszalinski den folgenden, ins deutsche übersetzten, Artikel.
Die Suche nach Spuren der Vergangenheit dieser Stadt führte uns zusammen. Meinerseits das Interesse an der Geschichte Belgards, dem Ort, wo ich geboren bin – ohne Ansehen dessen, wer wann hier wohnte. Darum konnte ich ihm helfen. Doch je mehr ich diese Geschichte kennenlerne, desto öfter habe ich schlaflose Nächte…….
Es sah nach einem gewöhnlichen Arbeitstag aus, doch es wurde ein anderer. Um die Mittagszeit erschien in der Stadtverwaltung eine deutsche Familie. Wie viele andere, die unsere Stadt besuchen, fragten sie nach dem heutigen Namen einer Straße, ihre frühere Anschrift angebend. Er war in Belgard geboren und, fünf Jahre alt, einige Monate vor Kriegsende ins Innere Deutschlands abgereist. Dadurch hatte er als einziger der Familie überlebt. Jetzt kam er mit seiner Frau und den Söhnen. Er erinnert sich nur an weniges, kommt erstmals und ungern zurück, will nur ein dem Großvater vor dem Tod gegebenes Versprechen einlösen: das Grab von Mutter, Schwester und Onkel wiederzufinden.
Wir steigen ins Auto und fahren zu meinem Bekannten, der seit 1942 in Belgard wohnt. Während der Fahrt erzählt der Mann die ganze Geschichte ……. „Er wohnte mit Großeltern, Mutter und Schwester in Belgard. Sein Vater fiel als Flugzeugführer 1942 über dem Mittelmeer. Im Spätherbst 1944 schickte seine Mutter ihn, als das jüngste Kind, sicherheitshalber zur Tante nach Berlin. Sie konnte nicht wissen, wie richtig dieser Entschluß war …….
Als schon das Grollen der sich nähernden Front zu hören war, kam der Onkel in deutscher Offiziersuniform in die Wohnung. Er war sehr aufgeregt. Die Nazipropaganda, die die Sowjetsoldaten als alle Deutschen mordenden Ungeheuer zeichnete, die Atmosphäre des nahenden Kriegsendes – Angst ergriff die ganze Familie.
Mehrere Nächte hintereinander sprachen sie nur hiervon. Die grauenhafte Vorstellung vom Dröhnen sowjetischer Kolben an der Tür war so stark, daß sie, auf Zureden des Onkels, beschlossen sich gemeinsam das Leben zu nehmen. Als schon Schüsse zu hören waren und aus Richtung Grüssow die ersten Panzer in Belgard einfuhren, gingen sie auf den Hof. Der Onkel erschoss dort zuerst meine Schwester, dann Mutter und schließlich sich selbst. Die Großeltern wollten ihr Leben dem Schicksal überlassen und blieben im Haus. Großmutter wagte nicht hinauszusehen, Großvater stand mit Tränen in den Augen am Fenster. Anderntags holten zivile deutsche Ordnungskräfte die Körper meiner Angehörigen ab und begruben sie in einem Massengrab beim Friedhof an der Körliner Strasse. Insgesamt wurden darin 75 Deutsche beigesetzt, die umgekommen waren oder Selbstmord verübten. Großvater, Zeuge des Geschehens, schrieb das in sein Tagebuch. Nach dem Krieg reiste er nach Deutschland aus und dort traf er sich mit mir. Er berichtete von der Familientragödie und verpflichtete mich zur Auffindung des Grabes von Mutter und Schwester“.
Der letzte Wille des Großvaters sollte sich nach 46 Jahren erfüllen. Als Wegweiser bei der Suche sollte ein großer Stein neben dem Friedhof dienen. Unter diesem Stein wurden die Namenlosen bestattet.
Durch Augenzeugenberichte kenne ich nur zum Teil diesen Abschnitt der Stadtgeschichte. Ich hörte von den Massengräbern, wusste aber nichts Näheres. Die Hinweise meines Bekannten verengten das Suchgebiet auf die rechte Seite des Friedhofs. Er sagte, daß diese Deutschen wahrscheinlich auf der Wiese in Richtung Ernst-Flos-Hof begraben wurden. Ich kannte die Umgebung des Friedhofs gut und wusste, daß es dort keine Spuren früherer Gräber gibt. Ich erinnerte mich auch nicht, dort einen großen Stein gesehen zu haben.
Wir fahren auf den Friedhof, jetzt sowjetisch, der nach dem Krieg anstelle des deutschen Militärfriedhofs angelegt wurde. Unterwegs kaufen wir Blumen.
Herbst …. hohes Gras …. Sträucher. Nach so vielen Jahren hier etwas zu finden, ist praktisch unmöglich. Während der Suche verteilen wir uns über die ganze Breite der Wiese. Nach einiger Zeit unterbricht Rufen die Stille. Der Mann bittet seine Frau, die Blumen aus dem Auto zu holen. Alle gehen wir dahin, woher er ruft. Ich sehe den, neben einem mit Moos und Gras bewachsenen Stein stehenden, fünfzigjährigen Mann weinen, wie ein Kind. Seine Frau legt die Blumen auf den Stein und geht zu ihrem Mann. Daneben stehen schweigend die beiden fast erwachsenen Söhne.
Ich spüre, hier nicht gebraucht zu werden und gehe zum Auto zurück. Nach einer Weile kommen auch sie. Gemeinsam gehen wir Mittag essen. Sie erzählen von ihrer Arbeit, von der Gegenwart. Wir tauschen unsere Adressen. Sie laden mich zu sich ein, sind dankbar für die Hilfe, versprechen, in Kontakt zu bleiben. Plötzlich bin ich mir klar darüber, daß nur die Vergangenheit uns verbindet. Beide sind wir in derselben Stadt geboren. Er kehrte nur zurück, um das letzte Blatt im Buch der familiären Vergangenheit zu schließen.