Der Altkreis Schivelbein 1929

Die ältesten Nachrichten lassen die Gegend von Schivelbein im Besitz des altanhaltinischen Hauses erscheinen. Seit dem Ausgang des 13. Jahrhunderts war das Land Schivelbein von Pommern getrennt, mit dem es durch gleiche Bevölkerung, Sitten und Klima verbunden war, gehörte zu den sogenannten Hinterkreisen der Neumark und wurde erst 1816 seinem alten Stammland zurückgegeben. Noch heute gilt das neumärkische Recht im Kreis Schivelbein. Seine Grenzen bei dem Gebietsübergang im Jahre 1816 decken sich mit den heutigen. Der Kreis hat die Form einer von Norden nach Süden liegenden Ellipse mit Verengung nach Süden zu. Ungewöhnlich ist die in die Kreise Belgard und Dramburg hineinragende Exklave im Südosten ohne jede Gebietsberührung mit dem Hauptteil des Kreises. Der Kreis mit der einzigen Stadt Schivelbein ist 503 qkm groß und hatte bei den Volkszählungen 1895 = 19154, davon 6397 städtische Einwohner, 1925 = 22726, davon 8447 städtische Einwohner. Gewachsen ist die Bevölkerung hiernach von 1895 bis 1925 auf dem platten Lande um 12 Prozent und in der Stadt um 32 Prozent.

Am 1. Oktober 1928 war die Einwohnerzahl der Stadt auf 9117 gestiegen. Schivelbein ist der Geburtsort des großen medizinischen Forschers, des weltberühmten Pathologen Professor Dr. Rudolf Virchow, der im Oktober 1891 ihr Ehrenbürger wurde. Die gleiche Ehrung wurde dem Reichsbankvizepräsidenten Dr. von Glasenapp im Jahre 1924 zuteil. Die Geburtshäuser beider großen Männer standen auf dem Marktplatz nebeneinander. Im äußeren Bild und in der Zusammensetzung der Bevölkerung ist Schivelbein die typische pommersche Kreisstadt ohne jede nennenswerte Industrie. Neben den Kaufleuten und Handwerkern sind die Ackerbürger mit etwa 10200 Morgen landwirtschaftlich genutzter Fläche beachtlich. Von sonst am Sitz des Landrats untergebrachten Behörden fehlen der Kreisarzt, die staatliche Kreiskasse und das Finanzamt, die ihren Amtsort in Belgard haben. Andererseits befinden sich ein Hauptzollamt und eine Reichsbank-Nebenstelle in der Stadt. Ihre Wahrzeichen sind das Ordensschloss am Rega-Ufer, die im Jahr 1338 erstmalig erwähnte, 1881 restaurierte Marienkirche und das uralte Steintor mit seinen Emblemen, die an die Fehde im Mittelalter zwischen den Städten Belgard und Schivelbein, entfacht durch die Fortnahme einer Schivelbeiner Kuh im Jahre 1469, erinnern.

Die Stadt verwandelte die im Jahre 1877 gegründete Landwirtschaftsschule am 1. April 1927 in ein Reform-Realgymnasium, obwohl ihr damit bei Vorenthalt staatlicher Zuwendungen ein jährlicher Mehraufwand von 50000 RM erwächst. Von gehobenen Schulen besteht sonst noch eine Mädchen-Mittelschule. Eine im Jahr 1878 gegründete, inzwischen vom Vater auf den Sohn übergegangene städtische Musikkapelle mit vierzig bis fünfzig Mann ist ein Kulturfaktor über die Grenzen Schivelbeins hinaus. Der Stadtforst von 600 Hektar vermag infolge der starken Einhiebe in der Inflationszeit der Stadt keine finanzielle Entlastung zu bringen. Mit ihren Grundsteuervermögenszuschlägen von 460 Prozent erhebt sie mit die höchsten Kommunalsteuern im Regierungsbezirk, ohne daß sie neuzeitliche kommunale Anstalten oder Einrichtungen, zum Beispiel Wasserleitung und Kanalisation, besitzt. Das Anwachsen der Stadtbevölkerung in den Jahren von 1895 bis 1928 um etwa vierzig Prozent ist kein Zeichen wirtschaftlicher Kraft und kommunalen Aufblühens, denn die Stadt hat nach dem Kriege eine fluktuierende statt einer sesshaften Bevölkerung bekommen. Jährlich erneuert sich 1/9 bis 1/8 der konfessionell fast einseitig gegliederten Bevölkerung, und dies in einer im wesentlichen von der Landwirtschaft abhängigen Landstadt mit Ackerbürgern, Handwerkern und kleinen Geschäftsbetrieben, ohne Fabriken und größere gewerbliche Unternehmungen. Bei dieser Struktur läuft das Wirtschaftsleben in der Stadt parallel mit dem Gedeihen der Landwirtschaft im Kreise und in dem Polziner Kreisteil von Belgard, für welchen sie wirtschaftlicher Mittelpunkt ist.

Die Landwirtschaft, als der Hauptberufsstand im Kreise, hat ein gesundes Mischverhältnis von Großgrund- und kleinbäuerlichem Besitz. Ganz große Güterkomplexe sind gar nicht vertreten; staatlicher Forstbesitz ist in einer Fläche von 2300 Hektar vorhanden. Der größte Grundbesitz verfügt über 2125 Hektar. Ihm folgen:

18 Großbetriebe über 500 Hektar

15 Großbetriebe über 200 Hektar

14 Großbetriebe über 100 Hektar

317 bäuerliche Betriebe von 20 bis 100 Hektar

726 bäuerliche Betriebe von 5 bis 20 Hektar

1830 Kleinbetriebe bis 5 Hektar

Die Großbetriebe umfassen 43,8 Prozent, die bäuerlichen Betriebe 51,5 Prozent und die unselbständigen Betriebe 4,7 Prozent der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche des Kreises. Im Norden herrscht der größere Besitz vor, im südlichen Kreisteil der bäuerliche. Letzterer ist, abgesehen von der bekannten Verkaufsbewegung in der Inflationszeit, sesshaft geblieben. Der Familienbesitz durch Generationen ist noch immer das Merkmal der Bodenständigkeit, und zwar in einzelnen Dörfern fast ausschließlich.

Der Kreis hat fast durchweg armen und leichten Boden. Roggen und Kartoffeln sind die Hauptanbauarten. Weizen und Zuckerrüben können nur auf vereinzelten Flächen angebaut werden. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb setzt die ländliche Bevölkerung, keineswegs immer kaufmännischen Erwägungen folgend, fast ausnahmslos alles daran, dem kargen Boden das Äußerste abzuringen, dessen Bestellung und Erträge zudem noch allgemein von den Witterungseinflüssen und gebietsweise durch die bergige Landschichtung ungünstig beeinflusst werden. Ackerbestellungen und Ernten gehen in der Regel um zwei Wochen später vor sich als in den sechzig bis achtzig Kilometer südlicher gelegenen Kreisen Mittelpommerns. Der durch ungünstige klimatische Einflüsse verschärfte Existenzkampf der Landwirte um die Erhaltung und Nutzung der Scholle spiegelt sich in den verschiedensten Leistungen der Kreisinsassen in der Zeit nach dem Weltkrieg wider. Solche Wege der Selbsthilfe sind die Einrichtung der landwirtschaftlichen Schule, der Ausbau von Wasserläufen, die Trockenlegung von Wiesen und Äckern sowie die Vermehrung des Kreisstraßennetzes.

Im Jahr 1920 wurde in Schivelbein die landwirtschaftliche Schule gegründet, 1925 folgte die Mädchenklasse. Ein dreiklassiges Heim für diesen Schulbetrieb mit drei Wohnungen für Lehrpersonen baut der Kreis augenblicklich für 125 000 RM. Wiesen- und Wassergenossenschaften bestanden 1918 sechs mit 135 Genossen, 260 Hektar Genossenschaftsgebiet und 98000 RM Vorflutkosten, dagegen 1928 siebzehn mit 740 Genossen, 1255 Hektar Genossenschaftsgebiet und 807000 RM Vorflutkosten. Bis auf geringfügige Flächen sind diese Arbeiten beendet, insbesondere gilt dies von der 1925 gegründeten größten Genossenschaft zur Unterhaltung und Regulierung der Rega mit ihrem Gebiet von 700 Hektar und 480000 RM Ausbau- und Entwässerungskosten. Der Staat hat hierbei durch Beihilfen und billige Darlehen geholfen.

Der dritte Weg der Selbsthilfe ist der Kunststraßenbau. Das Kreisgebiet hat drei Eisenbahnstationen, deren Entfernung voneinander nur sechs bis sieben Kilometer Luftlinie beträgt. Da seine Hauptausdehnung mit vierzig Kilometer von Norden nach Süden läuft und keine Kleinbahnen vorhanden sind, ergab sich die Notwendigkeit zum verstärkten Ausbau des Kreisstraßennetzes. In den Inflationsjahren wurden 12,850 Kilometer und von 1924 bis 1927 30,649 Kilometer neue Chausseen gebaut, das bedeutet eine Erweiterung von 1918 bis jetzt von 127,493 Kilometer auf 170,992 Kilometer gleich 34 Prozent, womit eine Spitzenleistung in Pommern nach dem Krieg erbracht sein dürfte. Der Kapitalaufwand hierfür betrug 1740000 RM. Hiervon waren 223 000 RM Beihilfen von anderer Seite, so daß von dem Kreis, den beteiligten Gemeinden und Gütern 1517000 RM aus eigener Kraft aufgebracht worden sind. Im Bau befinden sich noch 11,3 Kilometer Chausseen und Kreistagsbeschlüsse für weitere 18,2 Kilometer liegen vor. Alle bisherigen Neubauten hat der Kreis in eigener Regie mit Hilfe eines kreiseigenen Fuhr- und Geräteparks von vier Lastpferden, einem Lastkraftwagen, einer Dampfwalze und einem Steinbrecher ausgeführt. Damit war er in den letzten Jahren der größte Arbeitgeber mit bis zu 300 Arbeitnehmern. Auch die Unterhaltung der alten Kreisstraßen vollzog sich mit Hilfe des Fuhr- und Geräteparks in Eigenwirtschaft. In den letzten Jahren ist auf rund achtzehn Kilometer zur Erhöhung der Verkehrssicherheit der Sommerweg beseitigt worden.

Die Mängel im ländlichen Feuerschutz nicht verkennend, schaffte der Kreis im Jahr 1925 einen in der Kreisstadt stationierten automobilen Feuerlöschzug an, welcher die 1000 Liter je Minute leistende Motorspritze mit 800 Meter Druckschlauch und eine Besatzung aus der fünfzehn Köpfe starken freiwilligen Kreisfeuerwehr in 30 bis 45 Minuten auch an die entfernteste Brandstelle im Kreis zu bringen vermag. Diese Bereitschaft wird nicht zuletzt durch eine in jede Wohnung der Wehrmänner gebaute, bei Tag und Nacht besetzte Alarmanlage von 2,4 Kilometer Länge erreicht. Löschzug, Alarmanlage und Ausrüstung verursachten Kosten von rund 28000 RM. Das ländliche Feuerlöschwesen durch Gründung und Unterstützung freiwilliger Feuerwehren zu verbessern, ist in sechs Ortschaften gelungen und wird weiter angestrebt, wenn hierbei auch die geringe Einwohnerzahl der meisten Ortschaften mit oft zahlreichen Abbaugehöften hinderlich ist. Die bestehenden Feuerwehren konnten in diesem Jahr zu einem Kreisfeuerwehrverband zusammengeschlossen werden. Ein ehrenamtlicher Kreisbrandmeister übt seit acht Jahren die technische Oberleitung aus.

Auf dem Gebiet des öffentlichen Fürsorgewesens fand der Kreis Gelegenheit, im Dorf Repzin ein Anstaltsgrundstück mit 7,5 Hektar Land im Jahr 1927 zu kaufen. Es soll 1929, nachdem der Deutsch-Israelitische Gemeindebund seine Erziehungsanstalt nach Berlin verlegt hat, zu einem Alters-, Siechen-, Klein- und Sozialrentnerheim sowie zu einem Lungenkrankenheim ausgebaut werden. Der Aufwand für Erwerb, Ausbau und Einrichtung ist mit 187000 RM veranschlagt. Das Heim wird sechzig bis siebzig Rentner aufnehmen können, während für das Lungenkrankenheim 29 Betten vorgesehen sind. Die Einrichtung ländlicher Gemeindepflegestationen wird durch fehlende Unterkunft erschwert, weshalb erst eine Station besteht, soll aber bei Neubauten planmäßig ins Werk gesetzt werden. In allernächster Zeit werden zwei Pflegestellen errichtet werden können.

In der Nachkriegszeit hat der Kreis auf dem platten Lande Wohnungen für fünf Landjägereibeamte, drei Hebammen, eine Gemeindeschwester und für sechs Wegewärter, Trichinenschauer und andere erbaut. In der Stadt Schivelbein errichtete er mit einem Kostenaufwand von 285 000 RM drei Wohnhäuser für eigene und staatliche Beamte sowie für ostmärkische Flüchtlinge. Der Siedlungsgedanke ist von der Pommerschen Landgesellschaft durch die teilweise Aufteilung des Rittergutes Berkenow und Ansetzung von achtzehn Siedlern mit Gehöften von fünfzehn bis achtzehn Hektar in den Jahren 1923 und 1924 verwirklicht worden. Im übrigen gibt es wenig Möglichkeiten für weitere Aufsiedlungen, vor allem wegen der gesunden Besitzverhältnisse. Dagegen hat sich der Eigenheimbau durch Aufführung von 29 Häusern verhältnismäßig günstig entwickelt, wenn man bedenkt, daß eine gewisse Vorsicht geboten ist, um schon aus volkswirtschaftlichen Gründen zu vermeiden, daß bei der sich auch hier zeigenden Landarbeiterflucht immer mehr Werkwohnungen leerstehen. Für Schulneubauten bekundete der Kreiskommunalverband sein Interesse durch Hergabe verbilligter Restbaudarlehen seitens der Kreissparkasse. Nach dem Krieg sind sechs neue ländliche Schulgehöfte errichtet worden, eines steht vor seiner Vollendung, und drei Schulhäuser sind erweitert worden. Bei 44 Schulgehöften im Kreis sind also seit 1919 zehn oder 23 Prozent erneuert. Mancher notwendige Schulbau konnte infolge Fehlens der Staatsmittel nicht ausgeführt werden.

Bei seiner Finanzgebarung beachtete der Kreis, die Kreisabgaben im Mittel der pommerschen Landkreise haltend, die wirtschaftliche Krise seiner ländlichen und städtischen Bevölkerung unter Ablehnung verlockender Anleihepolitik. Die Struktur seines Haushalts ist gesund. Hauptarbeits- und Lastengebiete sind Unterhaltung und Verbesserung des Straßenverkehrsnetzes sowie das Fürsorgewesen. Hierbei verzichtete er auf kostspielige oder den Rahmen des Notwendigsten überschreitende Straßenbaumethoden. Im Fürsorgewesen bedachte er die ihm anvertrauten Personenkreise zum mindesten nicht schlechter als größere und finanzkräftigere Bezirksfürsorgeverbände, er wagte sogar den Versuch, für die Berechtigten bedingungslose Heilbehandlung durchzuführen. Weil die Nutznießer dieser sozialen Einrichtung die gebotene Zurückhaltung trotz mehrfacher Warnungen vermissen ließen, mußte nach 1 Vg Jahren dieser soziale Akt leider dahin eingeschränkt werden, daß der Kreis nur für Arzt und Arzneien von Fall zu Fall nach Art der Krankheit und dem Grade der Bedürftigkeit eintritt.

Die letzte Vermögens- und Schuldenübersicht schließt mit einem Vermögen von 701652 RM und Schulden von 418868 RM. Diese Zahlen sind für einen Landkreis gewiss bescheiden. In dieser Zeit der Enge muß der Kreis jedoch erfassbare Gelder da hineinstecken, wo sie am produktivsten angelegt sind: Im Chaussee-Neubau. Für diesen hat er aus eigener Kraft im letzten Jahrzehnt, auf den Gegenwartswert umgerechnet, 1,5 Millionen RM aufgewendet, die das nicht realisierbare neue Vermögen mit seinen wirtschaftlichen und kulturellen Ausstrahlungen darstellen. Opfersinn, der Wille zur Selbstbehauptung und Kreisfreudigkeit haben diese und andere Werke in der Zeit größter Bedrängnis vollbracht, eingedenk des Wortes:

»Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten …«.

Quelle: Hinterpommern, Herausgeber Curt Cronau, Stettin 1929, gekürzt