geschrieben von Gerhard Drucker ( Israel ) für das Heimatkreisbuch
Etwa im Jahre 1826 wurde die Synagoge in der Jägerstraße gebaut. Ich kann mich noch genau an die 100-Jahrfeier im Jahre 1926 erinnern, als ich ein Junge von 14 Jahren war. Über die Verhältnisse bis zum Ersten Weltkrieg weiß ich nicht viel. Meine Eltern kamen erst 1911 nach Belgard. Mein Vater allerdings war schon 1898 als Lehrling bei der Firma Hamburger beschäftigt gewesen, die ihr Geschäft am Marktplatz hatte, und durch ihn weiß ich, daß die Gemeinde im 19. Jahrhundert viel größer war als bei Hitlers Machtantritt im Jahre 1933, als sie 30 Familien umfasste, d. h. etwa 130 Seelen.
Bis zum Ersten Weltkrieg gab es weder offenen noch versteckten Antisemitismus. Obwohl die jüdischen Bürger in Belgard – wie überall in Deutschland – während des Weltkrieges voll und ganz ihrer Pflicht am deutschen Vaterland nachkamen, trat gleich nachher ein bedeutender Umschwung ein. Im Jahre 1920 brach der Kapp-Putsch aus, mit dem Ziel, die Republik zu stürzen. In Belgard bewaffneten sich die Rechtsextremisten und solidarisierten sich mit den Kappisten. Tags darauf traf eine Kompanie unter dem Befehl eines Leutnants Leber ein, der Sozialdemokrat war. Sie besetzten das Rathaus und das Landratsamt. Von nun an gab es keine Ruhe mehr. Die gegnerischen Autos sausten Tag und Nacht schießend durch die Straßen, bis eines Tages in der Heerstraße der Sohn des Bäckermeisters Klotz erschossen wurde. Von den Kappisten wurde behauptet, der Todesschuss sei aus einem jüdischen Hause – dem des Herrn Moses – gekommen. Wilde Gerüchte gingen in der Stadt um: Plünderung aller jüdischen Geschäfte, Verhaftungen aller jüdischen Männer, Drohung ihrer standrechtlichen Erschießung, und ich sehe noch heute im Geiste meine heftig diskutierenden Eltern vor mir. Aber schließlich kam es nicht zur Ausführung dieser Unheil verkündenden Dinge. Der Kapp-Putsch brach infolge des Generalstreiks zusammen.
Nach diesem Ereignis trat eine Beruhigung ein. Die Bevölkerung verhielt sich verhältnismäßig fair gegenüber den jüdischen Bürgern. Meine Familie war oft zu Gast bei Christen eingeladen. Im Jahre 1926 wurde feierlich und in großem Rahmen die 100-Jahrfeier der Synagoge begangen. Dazu waren Vertreter der Militärbehörden sowie die Spitzen der Zivilbehörden eingeladen. Vor allem wurde bei dieser Gelegenheit die Gedenktafel für die gefallenen jüdischen Soldaten der Gemeinde enthüllt, und zwar
Heinrich Jacobsohn, Siegfried Chaitkin, Arthur Grunau, Max Altmann, Max Wollmann, Herbert Salomon, Siegfried Luft.
Ich kann mich an die Feier gut erinnern, da ich selbst im Chor mitsang.
In den folgenden Jahren trat ein Wandel ein, da auch in Belgard die Welle des Nationalsozialismus im Ansteigen begriffen war. Wir im Gymnasium spürten das sehr wohl. Jedoch gab es auch genug Gegner der Nazis, so daß wir jüdischen Schüler nicht so ganz isoliert waren. Die jüdische Gemeinde war im allgemeinen von dem Stimmungswechsel, der im deutschen Volk vor sich ging, vorläufig noch fast völlig unberührt und daher absolut ahnungslos. Ich erinnere mich noch deutlich, wie im Jahre 1931 ein Referent vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens nach Belgard kam und im Saal von Herrn Fichtmann, Friedrichstraße, vor der ganzen Gemeinde eine Rede hielt und nachdrücklich vor der Nazigefahr warnte, mit dem Hinweis, man möge sich nicht überraschen lassen, sondern auf alle Fälle vorbereiten. Darauf erhob sich im Saale ein furchtbarer Sturm, es entwickelte sich eine hitzige Debatte, man schrie den Redner einfach nieder und ließ ihn nicht mehr zu Worte kommen. Darunter war auch mein Vater, der – ein unverbesserlicher deutscher Nationalist – darauf pochte, daß er als Frontsoldat gedient und eine schwere Gasvergiftung erlitten hatte, daß zwei seiner Brüder schwer verwundet wurden und sein Vater den Krieg 1870/71 als Hauptmann mitgemacht hatte unter zweimaliger Verwundung.
Nichtsdestoweniger bekam auch die jüdische Gemeinde in Belgard nach dem Machtantritt Hitlers das neue System mit voller Wucht zu spüren. Am 1. April 1933 wurde ein Boykott-Tag proklamiert, vor sämtlichen jüdischen Geschäften zogen SA-Leute auf. Dabei bedrohte ein SA-Mann meine Mutter mit einem Revolver. Ich möchte aber wiederum nicht verfehlen, die faire Haltung der Zivilbevölkerung hervorzuheben: Die Angestellten stellten sich mutig zwischen meine Mutter und den SA-Mann, um sie zu decken. In der Folge wurde ein Gesetz erlassen, das Beamten verbot, bei Juden zu kaufen. Gleichwohl trafen sich viele auf freiem Felde, um nicht gesehen zu werden, wie sie bei uns Juden einkauften. Und die Bauern zeigten den SA-Leuten demonstrativ Waren, die sie bei Juden eingekauft hatten.
Allerdings konnten diese Sympathiekundgebungen den Gang der Geschichte nicht aufhalten. Viele Mitglieder der Gemeinde wiegten sich in falschen Hoffnungen, daß alles nur ein böser Traum gewesen wäre und sich eines Tages zum Guten wenden würde. So blieben viele Juden einfach in Belgard sitzen, entgegen eindeutiger Warnzeichen. So wurde eines Tages Max Keiler, ein polnischer Jude, seit vielen Jahren in Belgard ansässig und mit einer deutschen Christin verheiratet, von der er zwei Kinder hatte, mitsamt seiner Frau verhaftet und unter Musik durch die Straßen geschleppt. Ihm hatte man ein Schild umgehängt mit der Aufschrift: »Ich bin ein Jude und habe ein deutsches Mädchen geschändet« und ihr ebenso mit der Inschrift »Ich habe Rassenschande begangen, trotzdem ich ein deutsches Mädchen bin«. Max Keller hatte noch Glück, daß man ihn laufen ließ und nicht in das KZ sperrte. Die Gemeinde besorgte ihm sofort eine Fahrkarte, damit er verschwinden konnte, und man hat nie wieder von ihm gehört. Bald darauf kam auch der Rest der Gemeinde an die Reihe. Die Letzten, darunter auch meine Eltern, erhielten nach der »Kristallnacht« die Aufforderung, sofort ihren Besitz zu liquidieren und die Stadt zu verlassen. Das war das Ende.
Es war eine Gemeinde voll sprudelnden Lebens. Besonders religiös war sie nicht; So gab es keine Freitag- und Sonnabend (Schabbath) -Gottesdienste. Aber zum jüdischen Neujahr und Jom-Kippur erschienen alle vollzählig. Auch an den anderen Feiertagen – Pessach, Schawuoth und Sukkoth – fanden Gottesdienste statt, wenn auch mit geringerer Beteiligung. Auf dem großen Hof der Synagoge bauten wir Kinder die »Sukka« (Laubhütte) auf und schmückten sie aus. Außerdem wurden zu Purim, Chanukka und Simchath Thora große Feste veranstaltet, nachmittags für die Kinder und abends für die Erwachsenen. Dazu waren auch Mitglieder der umliegenden Gemeinden in Kolberg, Schivelbein und Bublitz eingeladen. Es wurde Theater gespielt, das von meinem Vater eingeübt war, und bis früh morgens lustig getanzt. Es gab auch die ganzen Jahre hindurch einen jüdischen Jugendbund, der etwa 20 Mitglieder hatte. Unsere Zusammenkünfte hielten wir in der Volksschule ab, wo uns Rektor Zuther, der mit meinem Vater gut befreundet war, einen Raum zur Verfügung gestellt hatte. Durch diesen sehr aktiven Jugendbund wurde die Belgarder Gemeinde zu einem Mittelpunkt für die umliegenden Gemeinden. Leider brach das wie ein Scherbenhaufen zusammen und wird nie mehr sein.
Quelle: Der Kreis Belgard, S. 819 – 821