Mein Großvater Bernhard Maaß gründete unsere Firma in der ersten Hälfte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Er wurde am 30. Oktober 1867 in Alt-Lülfitz als Bauernsohn geboren, verließ sein Heimatdorf und ging für eine Kaufmannslehre nach Berlin zu einem Hoflieferanten des Kaisers, in dessen Kontor die Angestellten nur mit Cutaway und Zylinder kamen. Nach Abschluß seiner Lehre kaufte er mit seinem Erbe in Belgard in der Marienstraße ein Haus, in dem er ein Lebensmittelgeschäft einrichtete. Etwas später, als das Nachbarhaus abgebrannt war, erwarb er dieses Grundstück und ließ es wieder bebauen, so daß die Adresse nun Marienstraße 15/16 lautete. Der Großvater meines Zeichenlehrers, des Bildhauers Joachim Utech, war der Baumeister. Mein Großvater war ein tüchtiger Geschäftsmann, der sich nicht scheute, morgens um 6 Uhr in seinem Laden zu stehen, um die Arbeiter zu bedienen, die auf dem Weg zur Arbeit bei ihm etwas kaufen wollten. Andererseits aber brachte er, durch den Aufenthalt in Berlin dazu befähigt, auch etwas „savoir vivre“ nach Belgard, was sich in der Einführung von in Belgard noch unbekannten Lebens- und Genußmitteln zeigte (Ananas, französische Weine, neue Kaffeemischungen u.a.). In dem vergrößerten Anwesen konnte er bald auch Bierstuben einrichten. Hinter dem Hof war eine große „Ausspannung“, die für die Landkunden Bedeutung hatte, denn hier konnten sie ihre Pferde ausspannen und während der Einkäufe (auch in anderen Läden der Stadt) unterstellen.
Ende der zwanziger JahreNach dem Tode seines Vaters Bernhard 1927 war mein Vater Erwin Maaß einige Jahre als Geschäftsführer für seine Mutter Elsbeth tätig bis er Mitte der dreißiger Jahre die Firma als selbstständiger Kaufmann übernahm. Meines Vaters Betrieb, die Firma Bernhard Maaß, war eine Kolonialwaren-, Delikatessen- und Weinhandlung. Im Erdgeschoß des Hauses Marienstraße 15/16 waren die Geschäftsräume. Das Geschäft war auf Kaffee, Weine und Spirituosen spezialisiert. Natürlich führte man auch alle anderen Lebensmittel. Schon mein Großvater Bernhard Maaß hatte neue Kaffeemischungen hergestellt. Der Rohkaffee wurde damals in einem Gasröster gemischt und geröstet. Später schaffte mein Vater einen großen elektrischen Kaffeeröster an. Ich habe oft davor gestanden und durch die Glasscheibe die Bewegung des Kaffees in der großen Trommel verfolgt und danach den Kaffee, der in einem großen offenen Behälter zum Abkühlen durch ein Rührwerk bewegt wurde, beguckt. Alle Räume waren dann vom Kaffeeduft durchzogen. Es kann sein, daß dieser elektrische Kaffeeröster anläßlich der Umstellung Belgards von Gas auf elektrischen Strom in unseren Laden kam. Ich erinnere mich an mehrere Transparente über den Straßen mit der Aufschrift „Belgard kocht elektrisch“ und einer elektrischen Illumination des Mükeparks, die mir außerordentlich gefiel. Das war im Jahre 1935.
Mein Vater handelte auch mit Briketts (en detail) und Brennspiritus. Diese Geschäfte lagen in den Händen von Herrn Rettig, unserem Hofarbeiter. Im Winter wurde auch Wild verkauft (Hirsche, Rehe, Hasen, Wildschweine), das an großen Haken unter der Holzgalerie im Hof aufgehängt war und von Herrn Rettig zerlegt wurde. Die Hasen zu häuten hatte unsere langjährige Hausgehilfin Olga übernommen. Sie hatte im Häuten und Spicken eine große Fertigkeit erlangt. Über die verkauften Lebensmittel weiß ich nur noch wenig. Ich erinnere mich an Artikel von Knorr oder Maggi, Blauband-Margarine, Sarotti-, Hildebrand-, Mauxion- und Cailler-Schokolade, Camembert „Stolper Jungchen“, geräucherte Gänsebrust (Spickbrust), Teewurst von der Firma Brandenburg aus Rügenwalde und Kathreiner Malzkaffee. Senf – bei uns Mostrich genannt – der Firma Kühne wurde aus großen grau-blauen Keramikgefäßen in mitgebrachte Gefäße gezapft. Ebenso verfuhr man mit „Kreude“, dem schwarz-glänzenden Zuckerrübensirup. Marmelade gab es auch lose aus Blecheimern oder als Konfitüre in rundlichen Gläsern der Firma Bourzutschky. Nährmittel, Zucker und Salz wurde in Säcken geliefert und vom Personal abgewogen und eingetütet. Die Salzsäcke waren weiß mit hellblauem seitlichen Streifen, sie wurden nach dem Auftrennen als Handtücher in Laden und Bierstube benutzt. Zigaretten befanden sich in einem hochgelegenen Wandschrank, unter dem ein kleiner Holztritt stand. Ich erinnere mich an „Eckstein“, „R6“ und „Muratti Gold“. Meine Mutter sammelte für mich die beiliegenden Bilderschecks, die ich nach Hamburg-Bahrenfeld zum Zigarettenbilderdienst sandte, um dafür Bilder und Sammelalben („Märchen“, „Blütenpflanzen“, „Malerei der Gotik“, „Malerei des Barocks“, „Malerei der Renaissance“) zu erstehen. Ich erinnere mich auch an große emaillierte Blechschilder, die an der Hauswand neben den Schaufenstern hingen; u.a. an eines mit dem Kopf eines Bernhardiners, das mir als Kind sehr gefiel. Wasch- und Putzmittel gab es in dieser Vielfalt wie heute nicht, ich entsinne mich aber an „Persil“, „Sil“, „Henko“, Kernseife, Seifenflocken und Ata-Scheuerpulver.
Unter dem Laden und den Bierstuben befanden sich die Kellerräume, zum Teil mit Gewölben. Sie hatten einen überbauten Eingang vom Hof aus. Hier wurden Käselaibe, Essig und Weine (aus dem Rheingau, von der Mosel und aus Frankreich) gelagert. Es gab auch einen Abfüllapparat und eine Verkorkungsmaschine für Weine, die im Faß geliefert wurden. Heringe lagerten in einer großen Tonne im Packraum hinter dem Laden, wo auch die Materialien für die Schaufenstergestaltung in einem Wandregal lagen. Ein großer Tisch vor dem Hoffenster war der Ort, wo die Lebensmittel zusammengestellt und verpackt wurden, bevor sie an die Kunden ausgeliefert wurden. Bis 1936 verfügte das Geschäft noch über ein Pferd, das den Rollwagen (ein Tafelwagen mit niedrigen Seitenwänden) ziehen mußte, wenn Waren von der Güterabfertigung der Bahn abgeholt oder zu Kunden gebracht wurden. Später wurden die Hauslieferungen dann mit einem Geschäftsrad mit Anhänger ausgeführt. Auf diesem großen Tisch vor dem Hoffenster wurde auch das Wild zerlegt, das vorher an Haken unter der Holzgalerie „abhing“. Ich erinnere mich auch an die lebenden Karpfen, die man zu Weihnachten und Sylvester anbot. Sie wurden in mehreren Tonnen in der Waschküche unter ständigem Zufluß von Leitungswasser gehalten. Einmal geschah es, daß einige Karpfen übrig blieben. Diese wurden in unsere Badewanne umquartiert und nach und nach an Freunde und Bekannte verschenkt. Natürlich kamen sie auch bei uns auf den Tisch als „Karpfen blau“ oder „Karpfen in Biersoße“.
Die beiden Bierstuben lagen rechts neben dem Laden und hatten zwei bzw. drei Fenster zur Marienstraße. Man konnte sie vom Laden, vom Hausflur und vom Hofgang aus betreten. In der ersten Bierstube stand eine kurze Theke mit den Bierzapfhähnen, die vom Keller aus gespeist wurden. In späterer Zeit waren die Zapfstellen in einer hinter der Theke vom Packraum abgeschlagenen Nische, wo sich auch das Spülbecken befand. An Getränken gab es Bier vom Faß (u.a. Dortmunder Unionsbräu, wahrscheinlich auch Kohlstock-Bier), Spirituosen und Kaffee. Man konnte dazu warme Würstchen mit Brot und Tilsiter oder Schweizer Käse, der in Streifen geschnitten und mit Senf serviert wurde, verzehren. Einmal im Jahr, im Winter, gab es einen riesigen Topf „Königsberger Fleck“, eine Suppe, die aus Rinder- und Schweinemagen gekocht war und in der Brühe viele kleine Magenwürfel enthielt. In der Fastnachtszeit wurde zu einem Bockbierfest eingeladen, bei dem auch Dekorationen, Kappen und Pappnasen eine Rolle spielten. Die Betreuung in der Bierstube erfolgte wohl tagsüber vom Laden aus durch Angestellte. Abends gab es wenig Gäste, es waren fast alles Stammgäste. Mein Vater bediente sie selbst, oder, wenn er im Kontor schriftliche Arbeiten zu erledigen hatte, versorgte meine Mutter die Gäste. Später wurde ein Buffetier eingestellt, der aber bereits im Herbst 1939 kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen nach Westpreußen ging, um dort ein Lokal zu eröffnen.
In einem zum Hof gelegenen, vom Hausflur aus zugänglichen Zimmer hielten sich am Sonnabend, dem Einkaufstag der Landkundschaft, oft Bauersfrauen auf, die nach Erledigung ihrer Einkäufe sich nur ungern zu ihren Männern in die Bierstuben setzten und auf die Heimfahrt warteten (die Bauernwagen standen in der Mauerstraße und die Pferde warteten im großen Pferdestall am hinteren Hoftor). Dieses hintere Zimmer war in den dreißiger Jahren zeitweise an einen Vertreter der Kohlstockbrauerei vermietet, der hier sein Büro hatte. Die Kohlstockfässer lagerten in einem separaten Keller, der später zum Luftschutzkeller ausgebaut wurde. Das dicke Kaltblutpferd, das den Brauereiwagen zog, hatte einen kleinen Stall im hinteren Teil des Hofes. Für eine gewisse Zeit hatte die Firma Maaß auch eine Filiale an der Ecke Lindenstraße/Bahnhofstraße. Im Geschäft waren in den dreißiger Jahren meistens einige „junge Männer“ (Angestellte) und zwei Lehrlinge, dazu Fräulein Kunst als Kassiererin. Im Kontor war meine Mutter meinem Vater bei Buchführungsarbeiten oft behilflich, jedoch bis zum Kriege nie im Laden tätig. Sie hielt sich überhaupt gern im Kontor auf, wo ich sie auf dem an der Hinterwand stehenden alten geblümten Sofa mit einer Tasse Kaffee sitzen sehe, oft auch mit einer bekannten Kundin oder Besucherin.
Als mein Vater 1939 schon einige Tage vor Beginn des Krieges eingezogen wurde, überließ er meiner Mutter die Leitung der Firma. Da auch Angestellte zur Wehrmacht eingezogen waren, blieben ihr nur der Lehrling Bruno Giese und Fräulein Kunst, ein älteres Fräulein, das früher schon im Geschäft ausgeholfen hatte. Zu den Schwierigkeiten durch den Personalmangel kam die Erschwerung der Geschäftsführung durch die vielen Vorschriften der Kriegswirtschaft (z.B. Lebensmittelkarten, Lieferbeschränkungen). So schloß meine Mutter nach Beratung mit ihrem Mann im November 1940 das Geschäft. Die restlichen bewirtschafteten Waren übernahm die Firma Bayer und der Lehrling beendete seine Ausbildung bei der Firma Banatz. Die finanzielle Lage der Familie war gesichert, weil mein Vater nach der Schließung des Geschäftes neben seinem Zahlmeistergehalt eine Familienunterhaltszahlung erhielt.
Eleonore Gürge geb. Maaß