Man möge mir nachsehen, wenn ich Rarfin, das Dorf meiner Kinder- und Jugendjahre, ausschließlich durch eine rosarote Brille betrachte. Aber Rarfin war einfach ein Ort, den man gernhaben mußte, mit all seinen Menschen, die zu arbeiten, aber auch zu feiern wussten und mit seiner Landschaft, deren Reiz nur der verstand, der dort lebte.
Rarfin lag also nicht irgendwo in Hinterpommem, sondern genau dort, wo das zur Persante strebende „Krumme Wasser“ den Kreis Belgard vom Kreis Kolberg trennte und wo die Kleinbahn, der „Rasende Hinterpommer“, von Belgard kommend, endete und ihr Domizil hatte. Es endete dort aber auch die einzige nach Rarfin führende Chaussee, die umgekehrt über Podewils in die Welt hinausführte. Alle anderen Straßenverbindungen waren Landwege, deren dubiose Romantik besonders hervortrat, wenn die Frühjahrs- und Herbstregenzeiten sie zu fast unpassierbaren Barrieren machten. Aber das war die eigentliche Ursache, die Rarfin von jedem Durchgangsverkehr fernhielt und seine Bewohner fast unmerklich veranlasste, ein fast eigenständiges und auf ihre Art friedfertiges, beschauliches und zufriedenes gesellschaftliches Leben mit „Skat“, „Schafskopf“, „Köm“ und „Pfeifchen“ zu führen. Man durfte sich von dieser alltäglichen Ruhe jedoch nicht irritieren lassen, denn so mancher Rarfiner gab zu besonders heiteren Episoden Anlaß.
Nachfolgend nun einige kleine Kostproben, von denen man nicht immer genau weiß, ob sie bei der Überlieferung etwas ausgeschmückt wurden.
Otto wurde von vielen der „Künstler“ genannt. Er war ein sehr beliebter Musiker, und es war eine Selbstverständlichkeit, daß alle Feste und Tanzvergnügen von ihm und seiner Kapelle bestritten wurden. Es sei noch bemerkt, daß nichts ohne genügend Alkohol ablief. Einmal – es war noch taghell – überfiel ihn im Gasthof ein menschliches Verlangen, und es zog ihn auf das in Pommern übliche „Plumpsklo“ hin. Er machte es sich gemütlich und studierte beim Sitzen seinen neuerworbenen amtlichen Ausweis. Die Tür hatte er offengelassen, um mehr Licht zu haben. Plötzlich schaute die Ziege des Gastwirtes neugierig zu ihm hinein und entriss ihm mit einem Biss den Ausweis, suchte schnellstens damit das Weite und zerfraß ihn. Leider war es unserem guten Freund beim Drange der Geschäfte nicht möglich, nachzulaufen, um den Ausweis eventuell noch zu retten…-
Und dann war da noch Bernhard, der in jungen Jahren stolzer Kürassier war. Er machte auch jetzt noch immer einen noblen Eindruck und – um dies auch nach außen hin sichtbar zu machen – fuhr nur mit Zigarre auf seine Felder, löschte den Glimmstengel aber schon am Ausgang des Dorfes, um ihn nach Erledigung der Feldarbeit am Ortsanfang wieder in Brand zu setzen. Bernhards Frau benötigte eine Brille. Also spannte man als Bauer an und fuhr mit dem Rezept vom Augenarzt zum Optiker in die Kreisstadt. Dieser legte verschiedene Brillen zur Auswahl vor, und Bernhard probierte -obwohl er selber noch keine benötigte – so nebenbei auch eine und meinte begeistert zum Verkäufer: „Durch diese Brille kann ich aber ganz ausgezeichnet sehen.“ Dieser meinte schmunzelnd: „Das glaube ich Ihnen, denn in den Brillengestellen fehlen noch die Gläser.“-
Kurt war eigentlich ein Filou und hatte nur Streiche im Kopf. Eines Tages in den Ferien wollte er zu Freunden gehen, um dort Skat zu spielen. Doch sein Vater pochte darauf, daß er zuvor die schon länger verlangte Vogelscheuche bauen müsse. Aber es müsste nicht Kurt gewesen sein, wenn ihm nicht sofort ein höllischer Gedanke durch den Kopf gegangen wäre. Heimlich holte er Vaters Sonntagsanzug au dem Schrank und baute den alten Herrn, wie er leibte und lebte, in das Getreidefeld hinter den Garten; natürlich auch mit dem bekannten Strohhut seines Vaters. Von der Familie hatte zunächst niemand etwas von dem Unfug bemerkt. Nur der Hofmeister der Gutsverwaltung meinte nachmittags: „Nun steht der Gastwirt schon seit dem Vormittag auf seinem Feld, nur wegen der Spatzen und Tauben.“ Der Familienärger folgte am Abend.-
Pastor Rohde etwas energisch und lautstark in seiner Predigt von der Kanzel: „Wache auf der du schlafest, sage an, wer du bist!“ Darauf fast ebenso laut die erschrockene Stimme von Karl, der durch die Feierei am Abend zuvor etwas eingedämmert war: „Korl Schuult, Soger“ (Karl Schulz, Sager). Durch die besetzte Kirche ging ein hörbares Schmunzeln.
Gilbert Eichstädt
Pommersche Zeitung, Ausgabe 28 / 98, 11. Juli 1998