Bericht von Werner Pagel
Foto: Bürgermeister Reinhard Pagel mit Ehefrau Frieda, geb. Kath und den Söhnen Heinz ( hinten ) und Werner ( vorne ).
Die Gemeinde Roggow, 731 Einwohner, lag zwischen Persante und Muglitz und grenzte östlich an Belgard. Beide Orte lagen ungefähr 5 km auseinander. Verkehrsmäßig war Belgard von Roggow über den Anschluss die Weiße ( Persante-) – Brücke und die Polziner Chaussee oder über Denzin zu erreichen. Roggow war der Sitz des gleichnamigen Amtsbezirks und Standesamts. Amtsvorsteher war Walter Götzke, Ortsbauernführer Otto Graunke. Die Geschäfte des Standesamts nahmen Paul Zülow und Fritz Behling aus Vorwerk wahr. Die Abbauten Springkrug und Sternkrug lagen von dem Dorf Roggow getrennt nördlich der Persante an der Alten Salzstraße {Belgard – Bad Polzin) und hatten die Größe kleiner Dörfer. Den Belgardern dürfte Roggow bekannt sein durch die Veranstaltungen und Bälle in der Gastwirtschaf t Otto Kosanke, früher Artur Paske.
Die Amtsbezeichnungen änderten sich im Laufe der Zeit. War es seinerzeit das Amt des „Schulzen“ oder auch „Dorfschulzen“, so wurde es danach der „Gemeindevorsteher“, worauf dann später der „Bürgermeister“ folgte. Bekannt sind die Inhaber dieses Amtes ab 1895:
1895 bis 1909 Ludwig Borth – mein Urgroßvater mütterlicherseits
1909 bis 1913 Hermann Pagel – Bruder meines Großvaters
1913 bis 1926 Theodor Pagel – mein Großvater
1926 bis 1930 Emil Fichtner
1930 bis 1945 – als die Russen unsere geliebte Heimat besetzten – mein Vater Reinhard Pagel.
Aus früheren Jahren sind mir keine Begebenheiten bekannt, jedoch einige Erinnerungen aus der Zeit meines Vaters. Für das Amt war die letzte Wahl 1930, danach verlängerte sich die Amtszeit fortlaufend oder einfach durch Berufung. Ich erinnere mich noch gut an das Jahr 1930, als einige Männer bei uns durchs Hoftor kamen, ans Schlafzimmerfenster klopften und riefen:
„Reinhard stoh up, Du büst us Bürgermester.“
Die Wohnverhältnisse bei uns waren den Roggowern bekannt. Man wusste genau, wo die Küche, das Wohn- und Schlafzimmer waren. Es hatte nicht jeder „sein“ Zimmer, und so schlief ich ja auch noch im elterlichen Schlafzimmer mit. Als wir im Jahre 1991 in Roggow waren, konnte ich meiner Frau Marga, meinen beiden jüngsten Töchtern Ina und Sibylle auch das nun leider total verkommene Wohnhaus zeigen, auch wo mein Bett dicht am Fenster, wo die Ehebetten und wo die übrige Einrichtung gestanden hatte. Einzig und allein die Frisierkommode des Schlafzimmers stand 1991 noch auf demselben Platz.
Das Amt des Bürgermeisters war anfangs eine echte ehrenamtliche Tätigkeit. Es gehörte auch noch die Gemeindekassenführung dazu. Große Beträge wurden nicht umgeschlagen. Einzuziehen waren einige Steuern und Abgaben, auszuzahlen Beihilfen an Bedürftige. Später wurden dann die Aufgaben getrennt; hier der Bürgermeister, dort der Kassenverwalter. Die Gemeindekasse führte Gerhard Borth und danach Erwin Borth. Für Benachrichtigungen und Bekanntmachungen gab es noch den Gemeindediener. Das war Willi Kath – auch „Schneider-Willi“ genannt. Er hatte seine Wohnung bei uns im Torgebäude. Er führte auch eine Liste über die so genannten „Hand- und Spanndienste“. Es wurden damals die meisten Arbeiten in der Gemeinde in Selbsthilfe erledigt. Dazu gehörte auch der Feuerschutz. Er verteilte Tafeln für das linke Gespannpferd, das die Spritze zu fahren hatte sowie für die Wasserwagenfahrer, die nummeriert waren. Seine weitere Aufgabe war der Nachtwächterdienst. Er ging des Nachts einige Male die Dorfstraße hinauf und hinab und sah nach dem Rechten. Im Kriege mußte er bis zur Einsetzung eines Luftschutzwartes die Verdunkelung überwachen.
Bis Mitte der 30iger Jahre lief alles in ruhigen Bahnen. Mein Vater konnte damals noch alles mit dem Fahrrad, auch zu den Ämtern in Belgard, erledigen. Gelegentlich nahm er auch Pferd und Wagen und verband damit einiges, so beim Einkaufsverein, beim Sattler, in Geschäften usw. Ich fuhr oft mit; wir spannten bei Kaufmann Bernhard Maaß am Ende der Heerstraße, in der Nähe des Hohen Tors aus. Wenn die Besorgungen erledigt waren, saß man noch etwas in der Gaststube, wo in der Regel Bekannte aus anderen Dörfern anzutreffen waren.
Das erste Getränk meines Vater war. ein „Koks“, ein hochprozentiger Rum (?) mit einem Stück Würfelzucker und einer Kaffeebohne darin. Dann – je nach Wetter – eine Tasse Kaffee oder ein Bier. Für mich nach Wunsch ein gelbe, rote oder grüne Limonade. Auch den kleinen Imbiss vergesse ich nicht. Unterhalb von Kaufmann Maaß – Richtung Marktplatz – in der Heerstraße war eine Bäckerei. Ich meine, es war die Bäckerei Sellnow. Von dort mußte ich dann für 20 Pfg. 4 Brötchen holen. Aus dem Laden wurde auf einem Teller ein Keil Tilsiter Käse in Streifen geschnitten mit Mostrich gebracht. Für mich war dieses zweite Frühstück ein Erlebnis. Die Fahrt zurück nach Roggow führte meistens über Sternkrug. Mein Vater konnte hier dann noch amtliche Erledigungen machen.
Was ich auch miterlebte, waren die Gemeinderatssitzungen. Sie fanden in unserem Hause im kleinen Wohnzimmer,, dem „Amtszimmer“ statt. Den Gemeinderat bildeten 5 bzw. 6 Männer, In den ersten Jahren war Erich Beilfuß Erster Beigeordneter, also Erster Stellvertreter des Bürgermeisters. Später wurde es Otto Zimmermann. Ich kann .mich erinnern, als er vereidigt wurde. Das geschah im Amtszimmer; alle Anwesenden mußten aufstehen.
Erinnern kann ich mich auch an Paul Leistikow und später von Amts wegen an Walter Goetzke. Auch die Ortsteile Springkrug und Sternkrug waren im Rat vertreten. Jedenfalls verliefen die Sitzungen sachlich und harmonisch, soweit ich dies beurteilen konnte. Bedeutende Themen waren der Bau der Weißen Brücke über die Persante, die neue Straße vom östlichen Dorfausgang Roggows bis an die Polziner Chaussee und die Anlage und Gestaltung des Schulgartens am Kriegerdenkmal. Ein Hochwasser zerstörte den über die Persante nach Sternkrug führenden Krähensteg. Im Zug einer Übung wurde der Steg von einer Pioniereinheit ah einem Tage neu gebaut. Dann der Schulleiterwechsel Gerhard Brandt – Franz Schülke. In dem Zusammenhang stand der Neubau einer Schule zur Diskussion, weil die Lehrerwohnung, wie auch die Klassenräume, nicht mehr der Zeit entsprachen. Durch den Ausbruch des Krieges ließ sich dieses Projekt nicht mehr verwirklichen. Als neuer Standort für die Schule war das Grundstück zwischen Albert Bütow und uns, also gegenüber von Otto Zimmermann vorgesehen.
Ein wiederkehrendes Thema in den Gemeinderatssitzungen war das Anlegen und Führen einer Gemeindechronik. Unser neuer Schulleiter Franz Schülke war dafür besonders geeignet. Er hatte eine gestochene, gut lesbare Handschrift. Ich weiß noch, als in einer Sitzung alle Teilnehmer um den Tisch standen und bewundernd das Exemplar betrachteten. Es war eine in rotem Leder gebundene Chronik in der Größe DINA3. Eine rege Sammlertätigkeit war dem vorausgegangen. So trug Schülke zahlreiche Fotos, Urkunden, Berichte aus früherer Zeit zusammen. Der Anfang war gemacht. Dann kam der Krieg und 1945/46 unsere Vertreibung. Die Chronik ging leider verloren.
Mitte der dreißiger Jahre wurde die Arbeit des Bürgermeisters aufwendiger. Es begann die Erfassung und Registerfortführung der wehrpflichtigen jungen Männer. Die Pferde wurden auf dem Sandfeld gemustert. Die Aufrüstung begann allgemein. Mein Vater war viel unterwegs. Roggow gehörte mit 800 Einwohnern zu den größeren Gemeinden im Kreise Belgard. Vater legte sich nicht zuletzt aus gesundheitlichen Gründen ein Auto zu. Dazu eine kleine Begebenheit :
Ich war 10 oder 11 Jahre alt und – wie in diesem Alter üblich – probierte, das Auto zu fahren. Mein Vater war davon nicht angetan. Aber ich konnte ihn überreden, und so durfte ich gelegentlich das Auto aus der Garage fahren und vor das Haus stellen. Als ich das wieder einmal geschafft hatte und noch stolz am Lenkrad saß, öffnete sich das Hoftor und Polizeimeister Daske aus Boissin kam auf den Hof und wollte zu meinem Vater. Ich jedenfalls war in der Scheune verschwunden. Nachdem er sein Anliegen meinem Vater vorgetragen hatte, sagte er im Weggehen: „Wenn Du Deinen Jungen suchst, findest du ihn in der Scheune.“ Mein Vater kam und fand mich zusammengekauert hinter der Häckselmaschine.
Im Sommer 1939 wurde es unruhig. Ende August 1939 ging es mit den Einberufungen los. Die Mobilmachung begann. Nicht nur die wehrpflichtigen jungen Männer wurden eingezogen, auch Pferde und Fahrzeuge in den Dienst der Wehrmacht gestellt. Die Pferde waren auf den Musterungen nach Tauglichkeit und Abkömmlichkeit nach Sattel- und Wagenpferden eingeteilt. Uns betrafen die Maßnahmen unmittelbar: Mein Vater mußte am 26. August 1939 sein Auto abliefern und mein Bruder Heinz am 28. August 1939 seinen Wehrdienst antreten. Angesichts zunehmender Aufgaben war es meinem Vater nicht mehr möglich, alle Aufgaben allein zu bewältigen. Auch meine Mutter und ich wurden mit den Aufgaben vertraut gemacht und eingesetzt. Die Anliegen der Gemeindeglieder und die Aufgaben der Ämter mehrten sich. Sprechstunden führte mein Vater zweimal in der Woche nachmittags durch. In besonderen Fällen mußten die Gemeindeangehörigen die Ämter in Belgard aufsuchen.
Zu Beginn des Krieges gaben wir einmal im Monat am Sonntagvormittag Lebensmittelkarten aus. Später dann für größere Zeitabschnitte. Hierzu waren mehrere Personen erforderlich, denn die Karten waren nach Altersgruppen, Selbstversorgern, Normalverbrauchern usw. unterteilt. 1 Person bzw. 2 Personen führten die Ausgabelisten und 3 bis 4 Personen hatten die entsprechenden Karten für jeden Haushalt bereitzulegen. Und es blieb nicht allein bei den Lebensmittelkarten, Bezugscheine kamen hinzu. Es wurde alles bewirtschaftet: Bekleidung, Schuhe, Brennmaterial, Fahrräder, Bereifung usw. Die Anträge wurden vom Bürgermeister entgegengenommen und geprüft und die Bezugscheine im Wirtschaftsamt des Landratsamts in Belgard ausgestellt. Nach der Ausstellung erhielten die Bürgermeister die Bezugscheine, die sie dann aushändigten. Auch Hausschlachtungen sollten (!) angemeldet, genehmigt und kontrolliert werden. Als dieser ganze Aufwand hinzukam, mußte für weitere Hilfe gesorgt werden. Als Gemeindesekretär wurde daraufhin Hermann Priebe für einen Tag in der Woche angestellt.
Nun mochte ich über den Vorgang des Hausschlachtens berichten:
Die Schlachtung war anzumelden beim Bürgermeister, das Wiegen des Schweins fand in Gegenwart von Willi Kath (Gemeindediener), statt, den Schlachtschein stellte der Bürgermeister aus. Die Schlachtung führte in der Regel Emil Neitzel durch; die Fleischbeschau nahm Richard Winkel vor. Am Schluß waren das Schlachtgewicht zu errechnen und die Zeit der Selbstversorgung, also die Zeit, für die der schlachtende Haushalt mit dem Fleisch auskommen mußte. Auch bei uns im ländlichen Raum spielte sich dies einigermaßen ein. Anfang 1940 konnte sich mein Vater ein neues Auto kaufen. Aber es wurde ohne Bereifung geliefert. Das Landratsamt genehmigte den Kauf gebrauchter Lkw-Bereifung, ausgestellt am 27. April 1940 durch Herrn Siegfried Gehrmann, unseren späteren Heimatkreisbearbeiter von 1970 bis 1980.
Nun war das Auto fahrbereit und zugelassen, aber um es benutzen zu können, brauchte man noch eine Sondergenehmigung. So wurden das vordere und das hintere Nummernschild mit einem Winkel versehen und das Auto durfte nun in den Verkehr, wenn es Kraftstoff gab. In der Regel gab es 10 l monatlich für 4,10 RM, und zwar bei Otto Krohn in Belgard in der Kleiststraße. Es kam schon mal vor, daß der Gutschein 5 l mehr auswies.
Anfang der Kriegsjahre 1940/41 wurde der Feuerschutz modernisiert. Die alte pferdegezogene Handdruckspritze wurde durch eine Tragkraftspritze (Motorspritze) ersetzt. Befördert wurden die Spritze und das Schlauchmaterial auf einem Tragkraftspritzenanhänger. Als Zugfahrzeug diente ein Maybach-Cabriolett. Der Vorbesitzer dieses Autos war ein Zahnarzt. Das Gerät war einige Zeit bei uns abgestellt. Verantwortlich für die Feuerwehr war Wehrführer Reinhard Priebe. Später wurde die freiwillige Feuerwehr in eine Pflichtfeuerwehr überführt.
Später kamen noch die Aufgaben der Kinderlandverschickung aus den bombengefährdeten Gebieten des Reichs – insbesondere dem Ruhrgebiet, Berlin, Stettin usw. hinzu. So wurde 1942 bei uns in Roggow eine Schulklasse aus Brambauer / Westfalen untergebracht. Über den Lehrer dieser Klasse, Herrn Gräfner, der mit seiner Ehefrau bei uns im Hause wohnte, bekam ich, der ich mich in französischer Kriegsgefangenschaft befand, am 14. Juni 1946 das erste Mal Verbindung zu meinen Eltern. Waren es Anfangs Kinder aus den gefährdeten Gebieten Mittel- und Westdeutschlands, so kamen später ausgebombte und geflüchtete Familien aus den Ostgebieten, die alle Wohnraum brauchten. Das Amt des Bürgermeisters war in den letzten Kriegsjahren nicht leicht. Mit dem Einmarsch der russischen Truppen am 5. März 1945 waren die Aufgaben meines Vaters als Bürgermeister für die Roggower Einwohner beendet. Jeder hatte nun sein eigenes schweres Los zu tragen
Mein Vater Reinhard Pagel – der letzte Bürgermeister der Gemeinde Roggow, verstarb vertrieben nach einer darauf folgenden Krankheit am 15. August 1948 in Dortmund-Mengede. Ich befand mich noch in französischer Kriegsgefangenschaft und wurde am 3. Dezember 1948 nach Dortmund-Mengede entlassen. Hier lebte noch meine Mutter.