Winter- und Weihnachtszeit in Schivelbein

Ulrich Bulgrin

Mit der Feier des Erntedankfestes in den Kirchen und dem Austfest der ländlichen Betriebe, endete für die Bauern die harte Feldarbeit. Die Landbevölkerung begann ruhiger zu leben. Zwar gab es noch kein Ausruhen auf den Lorbeeren des Geernteten, die Feldfrüchte mußten winterfest untergebracht werden. Bald würde der Frost einsetzen. Da er noch in meiner Jugend in Pommern in seiner Urwuchsigkeit frühzeitig mit Frost und Schnee uns heimsuchte, mußten viele Arbeiten auf den Höfen getan werden, um ihm zu trotzen.

Scheunen, Mieten, Vorratskeller, Stallungen, die Behausung für das Vieh, alles mußte winterfest gemacht werden. Garbenbündel Stroh, gefüllte Säcke mit Heu, mit ihnen versperrte man die Fenster und Türen der Keller und Stallungen.

Auf Aktionen im Wald, wo das Holz in Raummetern gestapelt lag, erwarben es die Bürger als Brennholz für ihre großen Kachelöfen und Küchenherde. Es mußte eingefahren werden. Ca. 20 Raummeter, bestehend aus Birken-, Eichen-, Buchenholz und von allem, weil es billiger war Knüppelholz, erstand Vater in der Stadtforst. Unser Nachbar, der Ackerbürger Kath, fuhr uns das ersteigerte Holz vor die Haustür. So erwirtschaftete er sich Nebenverdienste, wenn Feldarbeit nicht mehr möglich war. Mit vereinten Kräften wurden die meterlangen Kloben und Knüppel durch den Hausflur getragen und auf dem Hof gestapelt. Sobald es die Zeit erlaubte und in der Werkstatt mal die Arbeit unterbrochen werden konnte, ging es an die Zerkleinerung des Holzes mit Säge und Beil. Ofengerechte Scheite wurden erstellt. In Körbe gesammelt, mittels eines Flaschenzuges, gelangten sie auf den Holzboden. Schicht für Schicht stapelte man dort das noch nasse Holz zum Trocknen auf, fein säuberlich getrennt von dem trockenen Holz des Vorjahres. Nur trockenes Holz war zur Verheizung zu gebrauchen. Die Zerkleinerung des neu angefahrenen Holzes erstreckte sich über mehrere Tage. Doch viele fleißige Hände erledigten die Arbeit. Wenn dieses Werk vollbracht war, sah man frohe Gesichter. Der erste Mittwoch im Monat November war Jahrmarktstag. Aus Fern und Nah kamen die Aussteller angereist und boten die verschiedensten Waren zum Kauf an. Was gab es da nicht alles zu erwerben ? Die aufgebauten Buden und Stände nahmen den ganzen Marktplatz in Besitz. Ja, sogar die Kirchenstraße, Steintor- und Mühlenstraße, sowie kleine Nebenstraßen beherbergten Verkaufsstände. Feilgeboten wurde alles, was der tägliche Haushalt benötigte und über den Winter reichen mußte. Rotkohl, Weißkohl und Zwiebeln wurden von der Mutter zentnerweise erworben, um auf dem Hausboden frostfrei gelagert zu werden. Schuhwerk, Stiefel, Ballenstoffe, so auch Fertigwaren boten wieder andere Händler an. Uns Kindern imponierte am meisten das Naschwerk und die Neuschöpfungen der Spielsachen. Besondere Spezialitäten der Süßigkeiten in Hinterpommern waren die Plastersteine. Rundes und eckiges Gebäck aus Lebkuchenteig überzogen mit Schokoladen- und Zuckerguß. Alles begehrte das Auge. Doch das sauerverdiente Taschengeld beim Holzzerkleinern und Straßenfegen reichte nicht, alles zu erwerben. Wählerisch wurde das karge Geld für einzelne ausgefallene Sachen angelegt. Oft genügte schon das Sehen und Erleben des einmaligen Jahrmarktes. Leider ging auch er viel zu schnell seinem Ende entgegen. Zurück blieb die schöne Erinnerung. Der Schulbesuch und Handreichungen für die Eltern im Hof und Feld bedeuteten wieder Alltag.

Der Reiz des nächsten Tages war das Tauschen einiger am Vortag auf dem Jahrmarkt erworbener Gegenstände mit den Schulkameraden. Spielsachen, gestern noch unveräußerlicher Besitz, heute bereits dessen überdrüssig, wechselten den Besitzer. Besonders tauschfreudig war mein Schulkamerad Rudi Schmechel. Er hatte stets ausgefallene Spielsachen. Tauschend erwarb ich für meine Ritterburg Pappmasche-Soldaten. So waren wir Jungen damals.

Bald nahm uns das Nahen des Advents in seinen Bann. Noch kürzer wurden die Tage. Bereits um 16 Uhr dämmerte es. Zu dieser Zeit versammelten wir uns bei den Eltern und Großeltern und lauschten den Erzählungen aus ihrer Jugendzeit. Die großen Kachelöfen spendeten mollige Wärme. Das Flackern des Feuers im Ofen wirkte gespenstisch und untermalte die manchmal schaurigen Geschichten. In der Ofenröhre brutzelten Äpfel. Ihr Duft durchzog nicht nur die Stube, sondern verbreitete im ganzen Haus Wohlgeruch. Nachdem sie durchgebraten waren, verspeisten wir sie schmatzend. Nun kam hinein ein mit Roßkastanien gefüllter Leinenbeutel. Nach Stunden der Erwärmung wurde derselbe ins Bett gelegt, um es vorzuwärmen für die Nachtruhe.

Viele Schummerstunden verbrachte ich auch bei unserem Nachbarn gegenüber. Bei Kalliesens war Stelldichein aller Nachbarkinder Jungen und Mädels umringten den Ofen, oder nahmen auf dem Fußboden Platz und lauschten den Geschichten, die uns die liebe Frau Kallies, Mutter von Heinz und Traudchen, erzählte. Spannend waren ihre Erzählungen. Besonders gruselig waren die Erlebnisse der Großtrien und der Kleintrien: „Die Hopperanken!“

Viele unvergessene Stunden erlebten wir in diesen Nachmittagen, an die ich gerne zurückdenke. Immer wieder drängten wir uns an den langen Nachmittagen im Winter um den warmen Ofen, wenn es draußen stürmte und schneite. Schemenhaft lugte der Mond zum Fenster hinein und untermalte die Erzählungen der Frau Kallies. Totennsonntag stand vor der Tür. Die Friedhöfe, auf denen die ewige Ruhe herrscht, mußten zu diesem Tag besonders winterfest und geschmückt, hergerichtet werden. Mit. frischem Tannengrün wurden die Grabhügel abgedeckt. damit der Efeu nicht erfror .

Sehr oft herrschte schon am Totensonntag grimmige Kälte. Unsere Rech, der Karpfenteich und der Bucholzsee waren mit einer tragbaren Eisdecke überzogen und luden zum Schlittschuhlaufen ein. Das war immer ein himmIisches Vergnügen. Wo wir sonst im Sommer nur mit Sehnsucht hinschauen konnten, verborgene Winkel und Kurven zu erreichen, jetzt war alles zugänglich, zugefroren. Windesschnell, mit den Armen rudernd, weitausholend , fegten wir über die spiegelglatte Eisfläche des Regaflusses dahin. Kilometerweit ging die hurtige Jagd. Verführerisch knackte und bog sich die Eisdecke, wo schilfbestandene Kolkstellen waren. „Das Büblein stampft und hacket, das Eis auf einmal knacket und plumps, nun liegt es drein!“ Das Gedicht mußte man immer im Hinterkopf haben, wenn man waghalsige Partien ausprobierte.

Hatte manchmal der Schnee noch seinen Einzug gehalten, die Goldmarie mit der Frau Holle reichlich die Betten geschüttelt, dann war Freude überall .Nicht nur hei uns Kindern herrschte winterliche Hochstimmung dem Ski- und Schlittensport zu frönen, auch die Erwachsenen hatten Spaß am Schneefall, besonders das Landvolk. Hurtig weckten sie ihre Schlitten aus dem Sommerschlaf, spannten rassige Pferde davor und mit Schellengeläut kamen sie zu uns in die Stadt um Besorgungen zu machen. Wir Jungen nahmen diese Gelegenheit zum Anlaß, wenn wir auf die Hinterkufen aufspringen konnten, um so ein paar Straßenzüge mitfahren zu können. Nicht jeder Kutscher sah es gerne, diese ungebetenen Gäste mitfahren zu lassen. Wie schnell konnten sie abrutschen und sich verletzen. Mit einem Peitschenhieb nach hinten entledigten sie sich der ungebetenen Mitfahrer. Eine schöne Rodelbahn, mit langem Abgang in den Anlagen, lockte zum Schlittensport. So auch eine steil abfallende Bergerhebung daneben, genannt die Todesbahn, zog waghalsige Burschen und Mädels an. Höhepunkt für Skiläufer waren die Abfahrten vom Galgenberg oder in Richtung den Berg hinab zu Müllers Fischzuchtanstalt. Stets warm angezogen, erklommen wir die höchsten Ausgangspunkte. Mit voller Fahrt ging es die Rodelbahn abwärts. Stellte sich uns kein Widerstand entgegen, gab es kein Auffahren auf den Vordermann, erreichte man mit einer hohen Geschwindigkeit der Talfahrt, ein Aufgleiten auf den Karpfenteich. Wieder ging es mit dem Schlitten hinauf, alsdann hinunter, nimmer müde werdend bis zum Anbruch der Dunkelheit. Oftmals wurde die Fahrt noch fortgesetzt, wenn schon die Dämmerung angebrochen war. Eine mitgeführte Taschenlampe zeigte das Kommen und die Richtung des Abwärtsfahrenden an.

Das war die letzte Fahrt. Der Heimweg wurde angetreten. Wie schön war doch dieser Wintertag gewesen. Solange wir unterwegs gewesen waren, verspürte man keine Kälte an den Händen. Erst in der warmen Stube, als die Wärme sie auftauten, schrienten und juckten sie, so daß man von einem Bein auf das andere herumhüpfte. Schnell wurde eine Schüssel voll Schnee vom Hof in die Stube geholt, die Hände darein gesteckt und die Linderung trat ein. Die Schönheit des Tages ließen uns die Schmerzen ertragen. Den darauf folgenden Tag wiederholte sich das Spiel. Hatten wir viele solche schönen Wintertage, gingen wir mit der Schulklasse auf Fahrt in drn Winterwald.

Mit Riesenschritten nahte das Christfest. Der I. Advent läutete das neue Kirchenjahr ein. In jede Stube kehrte der Adventskranz oder das kleine Adventsbäumlein ein. Mit dem Lied: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“, wurde das Adventssymbol besungen.

Die erste Kerze war angezündet, Advent gleich Ankunft des Herrn. Schon nahte der 6.Dezember, Nikolaustag. Bereits am Abend, dem 5. Dezember, wurde ein Latschen oder ein Teller vor die Tür gestellt. In der Nacht zog der Heilige Mann seine Runden und legte einige Süßigkeiten dort hinein. Nach dem Aufstehen war der erste Weg zum aufgestellten Gegenstand vor die Tür. Welch eine Überraschung. Der Nikolaus war dagewesen. Im Latschen lagen süße Vorboten auf das Weihnachtsfest. Warst du unartig gewesen, hatte der Nikolaus eine Rute hineingelegt. Die spornte zum Artigsein an.

Abend für Abend vor dem Schlafengehen wanderte der Latschen vor die Tür. Stets war die Freude groß, wenn morgens wieder eine Kleinigkeit im Stiefel lag. Jeden Tag wurde ein Fenster am Adventskalender geöffnet. Die Tage wollten nicht umgehen. Das Zählen brachte auch nichts, sie vergingen einfach nicht. Noch mußten sie genutzt werden. Besonders die liebe Mutter war noch gefordert. Tagelang mixte sie allerhand Teigwaren, rührte und knetete dieselben, stach Figuren aus und tat Backformen zu füllen. Wenn alles gefertigt war, wurden die Teigwaren zum großen Backofen des Bäckermeisters Lowke, zwei Häuser weiter, getragen. Dort. in seinem, noch mit Holzscheiten gefeuerten Backofen, wurde der Kuchen gebacken. Mütter der ganzen Nachbarschaft waren dort vertreten und brachten ihre Backwaren. Bestaunt wurden die Backerzeugnisse von uns Kindern. Jede Mutter hatte ein besonderes Rezept und eine Fertigkeit, Weihnachtsgebäck zu gestalten. Warm war es in der Backstube und es roch nach allerhand Gewürzen. In der Zeit der Festvorbereitunqen wurde der große Backofen nicht kalt.

Waren die Backwaren der Nachbarschaft gebacken, fertigte der Bäckermeister eigene Kunstwerke aus Teig und vielen Zutaten. Auch er wollte noch vor dem Fest dieselben anbieten. Unter seiner Meisterhand , unterstützt von Gesellen und Lehrlingen , entstanden reine Kunstwerke, wunderschöne Backwaren. Das waren Brezel, Kringel. mit Zuckerguß und Schokolade, Knusperhäuschen aus Lebkuchen und aus Marzipan geformt, Hänsel und Gretel, sowie die Hexe mit ihrer Katze und dem Rabenvogel. Puderzucker verzierte das Dach und den Wald, als sei Schnee niedergegangen .Ganz lecker waren seine Christstollen und viele Marzipanteilchen.

Wie herrlich waren all die Auslagen in den Geschäften unserer Stadt. In den Schaufenstern, weihnachtlich geschmückt, boten die Kaufleute ihre Waren an. Riesige Fichten mit Kerzen standen auf dem Marktplatz, dem Kaiserplatz und vor dem Bahnhof .

In den Spielwarengeschäften war es besonders schön. Bei Pinz in der Mühlenstraße war das Hinterzimmer weihnachtlich gestaltet. Betrat man es, dachte man, in der Werkstatt des Weihnachtsmannes zu sein. Mit einem Blick war gar nicht alles zu übersehen. Beim Anschauen aller Dinge wurden viele Wünsche gehegt. Lang sah der Wunschzettel aus. Würde der Weihnachtsmann ihn auch erfüllen ? Mit der Tröstung der Eltern, mal sehen wie sich der Weihnachtsmann zu deinen Wünschen stellen wird ? Sei man schön lieb und artig. Artigkeit war angesagt und banges Hoffen.

Endlich war es so weit, der 24. Dezember war angebrochen und auch die Weihnachtsferien. Die letzten Vorbereitungen wurden getroffen .Jeder legte Hand mit an, das Haus festlich zu gestalten. Bereits in der Frühe begannen alle emsig zu arbeiten. Auch die Gesellen und Lehrlinge in Vaters Schuhmacherwerkstatt waren früh auf den Beinen. Einer säuberte den Arbeitsbereich, ließ das Handwerkzeug in den Schubladen verschwinden, ölte den Fußboden mit Terpentin. Ein weiterer kehrte den Bürgersteig vom neugefallenen Schnee frei. Gemeinsam wurde der Hof vom Schnee geräumt, so daß die Stallungen trockenen Fußes zu erreichen waren. Auch Mutters Kühe wurde mit frischem Naß von der Gemeinschaftspumpe versorgt. Der in der Nacht vom Weihnachtsmann gebrachte Tannenbaum wurde in einen Holzschemel, der nur zu diesem Zweck aus der Versenkung ans Licht geholt wurde, gekeilt. Alsdann erhielt er in der guten Stube in der Fensterecke seinen Platz. Sein frischer Nadelduft erfüllte den Raum. Festliche Stimmung breitete sich aus. Die Arbeit in Haus und Hof war beendet. Einladend war der Mittagstisch gedeckt. Alle versammelten sich um die Tafel. Die Mutter hatte das Gericht „Schwarzsauer“ gekocht. Dieses bestand aus den Zutaten, Blut der Gans, Gänseklein gepökelt, Klieben, Backobst-Apfelringe, Birnen und Pflaumen. Da das Blut der Gans bei der Schlachtung geronnen wäre, wurde es durch Zugabe von Essig und stetigem Umrühren flüssig gehalten. Diese Säure versüßte man mit Zucker, so daß nach Fertigung des Gerichtes, die Mahlzeit einen süß-sauren Geschmack hatte. Es gab keinen an der Tafel, der nicht fleißig zulangte. Jedem war es ein Leibgericht, eine „Pommersche Spezialität.“ Nachdem die Tafel aufgelöst war, bekam jeder Mitarbeiter ein Geschenk. Das waren stets Gebrauchsgegenstände, die dankbar angenommen wurden. Mit dem Wunsche „Frohe gesegnete Weihnachten, Herr Meister und Frau Meisterin, „sowie ebenfalls allen Angehörigen des Hauses wünschend und noch einem kräftigen Händedruck, traten sie den Heimweg an.

Dieser Brauch wiederholte sich Jahr für Jahr, oft natürlich mit anderen Gesichtern. Die Familie war nun alleine. Das war das Zeichen für mich, in die oberen Räume zu gehen, um das Feld für den ankommenden Weihnachtsmann frei zu machen. Oben war ich in der Obhut der Großeltern. In ihrer Geborgenheit verlebte ich den Nachmittag. Ich lauschte ihren Erzählungen und Geschichten aus ihrer Jugendzeit. Großvater Bulgnn war dafür bekannt, wahre Begebenheiten wiederzugeben. Doch manch eine Räuberpistolengeschichte kam aus seinem Mund. Verschmitztes Lächeln besagte: Kannst es glauben oder auch nicht.

Großvater lehrte mich auch aus Bienenwachs und einem Docht, Kerzen zu fertigen. Bienenwachs war immer vorhanden. Selbiges wurde in der Schuhmacherei verwendet. Wir entzündeten die Wachskerzen und sangen Weihnachtslieder. Erzählungen und das Fertigen der Wachskerzen verkürzten die Wartezeit und lenkten mich von dem Geschehen in den unteren Räumen ab. Doch hin und wieder hörte man von dort poltern. Auch Türenschlagen war wahrzunehmen, sonst war es doch nicht erlaubt. Mit einem Ohr lauschte ich den Geräuschen. Jetzt ging die Haustür auf, gleich wieder zu. Schlurfen auf dem Flur war zu vernehmen. Da, ein Trommelwirbel, tram-tram-tram. Ebenfalls ein Schnarren auf dem Steinboden, lief da nicht eine Eisenbahn ? Gewünscht hatte ich sie mir. War der Weihnachtsmann endlich da ? Ach, die Zeit verging gar nicht.

Erlösend kam der Ruf „Aufbruch zum Kirchgang“. Also noch nicht ins Weihnachtszimmer. Die Glocken von St. Marien läuteten zum Heiligen Abend – Gottesdienst. In derbe Winterkleidung gehüllt, verließen wir das Haus. Unter unseren Füßen knirschte der Schnee. Eisiger Wind blies uns ins Gesicht. In der Kirche saßen dichtgedrängt die Bürger unserer Stadt. Vor dem Altar standen zwei große Fichten mit Silberlametta und Kerzen geschmückt. Das Jesubild, in einer Hand eine Lilie, schaute auf sie herab. Jedes Handwerk hatte seinen eigenen Chor. Der Schusterchor lag gegenüber vom Altar an der Ostseite, mit Blick zum Westen. Wir erklommen die Stufen und nahmen dort Platz. Stille trat ein. Alsdann ertönte vom Orgelchor über uns das erste Weihnachtslied, gesungen vom Männergesangverein „Liedertafel“. Dirigent und Organist Kantor Wilde, unser Gesanglehrer. Mein Vater gehörte zu den Singenden. Aufmerksam lauschte ich dem Gesang. Unüberhörbar war Vaters Tenorstimme. Als ich später über 10 Jahre alt war, sang ich selbst von der Empore als Liturgist.

In den hohen Gewölben gaben der Gesang und das Orgelspiel einen herrlichen Klang wieder, so, als öffnete sich das Himmelstor und die Englein schwebten mit ihren Posaunen hernieder.

Der Pastor Friedemann verlas die Weihnachtsgeschichte von der Geburt Christi in Bethlehem. Im Verlaufe der Weihnachtsfeier sangen wir noch viele liebgewonnene Lieder, „0 du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“, „Alle Jahre wieder, kommt das Christuskind“, sowie „Stille Nacht. heilige Nacht“, usw. Bereits bei den letzten Versen waren meine Gedanken schon daheim. Als sie verklungen waren, traten wir den Heimweg an.

Vom hohen Turm, dem Glockenstuhl, ertönte Posaunenklang. Unsere beliebte Stadtkapelle, unter der Leitung ihres Dirigenten Artur Zummach, intonierte die Weihnachtslieder: „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ und „Alle Jahre wieder“. Weit schallten die Weisen über die Dächer der verschneiten Stadt. Der Wind trug sie darüber hinaus über das verschneite Land, über Äcker, Wiesen, Berge, Wälder und Hügel zum Nachbarn in den umliegenden Dörfern. Begleitet von diesen Klängen, stampften wir über den Marktplatz, einige Schritte entlang der Steintorstraße, einbiegend in die Roßstraße, zu unserem Haus Mittelstraße 5. Durch verhangene Fensterscheiben konnte man schon Kerzen am Weihnachtsbaum in den Stuben brennen sehen. Angespornt vom Lichterschein eilten wir, hin und wieder einem vorübergehenden Nachbarn ein frohes Fest wünschend, heim. Schnell entledigten wir uns von den Wintersachen, nochmals das Festkleid ordnend, und der Weg ins Weihnachtszimmer war freigegeben. Mit hastigen Blicken wurde der ganze Raum in Augenschein genommen. Im hellen Lichterglanz erstrahlten die weißen Kerzen am Weihnachtsbaum. Benotung? Ja, diesmal war er noch schöner, als im Vorjahr. Äpfel, Nüsse, Schokoladenkringel, Fondant, Napolitains, in schillerndem Silber- und Goldpapier. Glaskugeln, farbprächtig glitzernd und viel Silberlametta, schmückten ihn .

In der Mitte der Stube stand der große Ausziehtisch. Ein großes weißes Laken war über ihn gespannt. Dieses verdeckte die darunter liegenden Geschenke. Doch dort unter dem Weihnachtsbaum entdeckte ich einen großen Karton. War da wohl für mich die gewünschte Eisenbahn drin ? Tatsächlich, neben der alten aufpolierten Burg mit Rittern zu Fuß, Kriegern auf Rössern, dem alten Schaukelpferd mit echtem Fell und gewienertem Sattel und Zaumzeug, ja, da stand sie, die gewünschte Bahn. Meine Augen strahlten.

Schon wollte ich zu all den schönen Sachen sausen und sie in Augenschein nehmen, mit ihnen spielen, gebot die Tradition: „Halt. erst werden Weihnachtslieder gesungen!“ Es erklangen die schönsten Weisen. Jeder gab seine beste Stimme. Nur mein Bruder Max brummte die Melodie. Er konnte einfach nicht singen. Nachdem wir mehrere Lieder gesungen hatten, entfernte die Mutter das weiße Laken vom Gabentisch. Alle Blicke galten ihm. Das Beschenken begann. Das ist für dich, und dieses habe ich für dich beim Weihnachtsmann bestellt gehabt, so schnatterten alle wild durcheinander. Während sich die großen Brüder, Eltern und Großeltern Geschenke überreichten, lag ich schon längst auf dem Fußboden und ließ die aufgebaute Eisenbahn kreisen. Beladen waren die Güterwagen mit Süßigkeiten. Manch ein transportierter Kringel hatte keine lange Lebensdauer. Er verschwand im Mund. Ansonsten herrschte in der Stube Stille. Jeder saß in einem stillen Winkel und bestaunte das Geschenkte. Inzwischen regte sich der Hunger. Der heutige Nachmittag war auch lang gewesen. Zudem noch die ganze Aufregung. Schnell war das Abendbrot gerichtet. Bei mir war der Appetit nicht groß. Die Süßigkeiten hatten mir den Magen verkleistert. Dafür hatten die anderen am Tisch Sitzenden, umso mehr Hunger. Es gab zu viele schöne Speisen. Kurz vor Weihnachten war noch Schlachtfest gewesen. Alle diese Sachen, die das Borstenvieh uns bereitete, waren nun zu genießen. Hinzu kam noch die geräucherte Gänsebrust. Ebenfalls eine Spezialität des Pommernlandes.

Müde von den Aufregungen des Tagesgeschehens, ging ich zu Bett. Mein Fußwärmer, die Katze, hatte es bereits angewärmt. Träumend, im Schlaf mit den herrlichen Sachen spielend, erwachte ich frühzeitig am l. Weihnachtstag. Noch nicht angezogen, eilte ich zu den Spielsachen.

Nach dem Frühstück, husch ging es zu Heinz, dem Nachbarjungen. Schnell wurde berichtet, was der liebe Weihnachtsmann gebracht hatte. Alsdann nahm ich in Augenschein, was er bekommen hatte.

Kalliesens Weihnachtsbaum war ganz anders geschmückt, als der unsere. An ihm prangten noch alte Utensilien, wie ich sie bei den Großeltern in Rützenhagen sah. Mit Silber und Gold bemalte Tannenzapfen des Waldes hingen am Baum. Aus buntem Papier und Strohwerk geflochtene Girlandenketten umringten ihn. Die Kerzenhalter waren an langen Eisenarmen in den Stamm gebohrt. Auf den Haltern saßen die Kerzen. Schnell vergingen die Vormittagsstunden. Ich mußte heim. Für den Nachmittag verabredeten wir wieder eine Zusammenkunft. Schon überquerte ich die Straße. Heim Haustüröffnen kam mir ein bekannter Duft entgegen. Es roch nach Gänsebraten. Seit dem Morgen war sie in der Backröhre. Einige Stunden brauchte sie zum Garen, um dann knusprig als Weihnachtsmahl serviert zu werden. Das Einkaufen derselben war stets Vater vorbehalten. Frisch geschlachtet hatte er sie auf dem Wochenmarkt von einer Bäuerin erworben, die noch viele landwirtschaftliche Produkte im Angebot hatte. Mit der Gans verband Vater einen Kult. Fett mußte sie sein, einige Kilo wiegen und vor allem durfte es kein Gänserich sein. Das Jungsein überprüfte er, indem er die Schwimmhäute zerriß. Schaffte Vater das nicht, war es ein alter Veteran. Beim Kauf mußte man schon aufpassen, sollte am Weihnachtsbraten die Freude keinen Schaden nehmen. Manche Bauern manipulierten an der Gans. Doch dieses war selten nur der Fall. Diesmal war ein Glückseinkauf. Alles stimmte an der Gans. Mutter hatte aus ihr einen Leckerbissen, wie immer, gezaubert. Wie verabredet, am Nachmittag, wenn der Verdauungsschlaf beendet war, versammelten wir Nachbarskinder, Jungen und Mädels, uns bei Kalliesens. Festlich waren die Kleider. Besonders hübsch hatten sich die Mädels angezogen. Frisch vom Weihnachtstisch auf den Leib. Mit Wohlwollen stellten wir Jungen das fest. Während wir mit dem Bauernhof und seinem Getier, Heinz hatte ihn zu diesem Fest bekommen, spielten, erprobten die Mädels auf ihren mitgebrachten Spielzeugherden schon Kochkunst. Eine kleine Probe für jeden war gekonnt zubereitet. Genießerisch ließen wir uns von den kleinen Damen verwöhnen. Dieser erste Weihnachtstag verging viel zu schnell. Als ich nach Hause kam, war das Abendbrot schon gerichtet. Viele gute Leckerein standen auf dem Tisch. Fleißig wurde zugelangt. Nicht jeden Tag gab es solche reiche Auswahl an wohlschmeckenden Gerichten. An Festzeiten war das die Ausnahme.

Nach dem Abendessen trudelten die Freunde meiner 3 älteren Brüder ein. Wir waren acht Personen. Mit dem Erscheinen der Gäste manchmal 14. Gemütlich umringten wir den Ausziehtisch. 2 Kartenspiele wurden hervorgeholt und los ging das Spiel „Lotterie.“ Einer übernahm die Kasse. Beide Kartenspiele wurden einzeln gemischt. Alsdann verkaufte der Banker ein Kartenpack an die Umsitzenden. Man erwarb 4 zu 1 Pfg., schon mal 3 zu 2 Pfg., selten 5 zu 5 Pfg. Bescheiden wurde damals mit dem Geld umgegangen. Hatte der Bankverwalter alle Karten verkauft, ging es los mit dem Spiel. Das nichtverkaufte Kartenpackel wurde nun aufgedeckt. Eine Karte quer waagerecht auf den Tisch. Alsdann 2 Karten senkrecht, nebeneinander darunter. Wer hat diese Karten ? Es gab einen Pfennig je Karte, wenn der Einkauf 1 Pfg. war. Natürlich pro Blatt. Lagen noch ein paar im Stock, so erhielten die Vorzeiger eine Ersatzkarte. Die zweite senkrechte Aufdeckung verdoppelte schon den Einsatz, also 2 Pfg. So ging es noch viermal weiter. Man erzielte pro Aufzeigen dann 3 Pfg. Bei der vierten Aufdeckung nebeneinander, 4 Pfg. Gespannt wurde nun die Aufdeckung der 9. Karte erwartet. Sie war das Hauptlos. Einpfennig eingekauft, erzielte man mit ihr, falls der Haupttreffer auf sie fiel, Achtpfennig. Beim Einkauf einer Karte von 2 Pfennig erzielte der Haupttreffer 16 Pfg. Fiel das große Los auf die eingekaufte 5 Pfg.- Karte, mußte die Bank 4o Pfg. berappen. Die Freude war groß bei dem Gewinner. Hatte Bruno Graunke den Haupttreffer, und er hatte die Karte mit einem Pfennig erworben, so war sein Ausspruch „Kasse gib mir l Groschen, ich gebe 2 Pfg. raus“. Groschen nannten wir noch immer das 10 Pfg.- Stück. 10 Pfg. ließen sich leichter in der Westentasche verstauen. Dann sah man nicht, wieviel einer gewonnen hatte, wenn öfter das Glück bei ihm zuschlug. Lagen beim Spieler nur Pfennige auf dem Tisch, hieß es: „Hast du Westmann gemacht!“ Meist verlor unser Vater, auch beim Doppelkopfspiel (Ulschenbaster). Heute meine ich, daß es seine Absicht war, uns gewinnen zu lassen. „Danke, lieber Vater!“ Gegen 12 Uhr, Geisterstunde, Mitternacht, Auflösung der Tafel. Der I. Feiertag fand seinen schönen Abschluß des geselligen Zusammenseins zweier Generationen. Zu erwähnen wäre noch, daß ich sonst bereits um 8 Uhr ins Bett gehen mußte, die Feiertage aber die Ausnahme bildeten. Die Gäste verließen das Haus und wir schlüpften ins Bett.

Der zweite Feiertag verlief ruhiger. Nun gingen meine älteren Brüder zu ihren Freunden. Vater, Mutter und ich verließen gleich nach dem Mittagessen unser Haus. Warm angezogen, begaben wir uns auf eine lange Fußwanderung. Unser Ziel, ein Besuch der Geschwister Barz. Solange ich denken kann, unternahmen wir jeden 2.Weihnachtstag diese Aufwartung. Die Geschwister Barz, 2 Brüder und eine Schwester. Wilhelm der ÄIteste, Karl etwas jünger und Emma die Schwester, waren Eigentümer des Rittergutes, ca: 7 Km außerhalb der Stadt gelegen. Das Rittergut gehörte früher den Rittern unseres Schivelbeiner Schlosses an der Rega, als unsere Stadt noch mit einer Wehr umgeben war. Mit diesem Abstecher dorthin, war das liebe Christfest in meinem Elternhaus noch nicht beendet. Stets gab es noch den 3.Feiertag in Ruhe zu genießen. Zu uns kam die Schwester meiner Großmutter Bulgrin. Tante Anna Prey. Prey war ihr Mädchenname.

Ganz wie das Weihnachtsfest gefallen war, alsdann begannen wieder ein paar Arbeitstage. Der Sylvesternachmittag läutete bereits den Jahreswechsel ein. Gegen Abend hatten wir wieder ein volles Haus. Alle die bereits am l. Weihnachtstag bei uns waren, hatten sich eingefunden. Spiele vielfältiger Art wurden aufgeführt. Das Knallbonbonausziehen war beliebt, so auch das Bleigießen. Kleine Tischbomben wurden zur Explosion gebracht aus denen allerlei Schabernack entsprang. Gut. mundeten Mutters Pfannkuchen ( Berliner ). Gefüllt waren sie mit Pflaumenmus. Nicht zu unterscheiden von den anderen, die Mus hatten, waren unter ihnen zwei, gefüllt mit Senf. Ein verzerrtes Gesicht zeigte an, wenn diese einer erwischt hatte. Schadenfreude bei den Umsitzenden. Auf keinen Fall fehlte ebenfalls der Kartoffelsalat mit Würstchen und Senf. Selbstgekorkter Wein aus eignem Beerensaft hob die Stimmung. Mit einem Bowlengemix wurde das neue Jahr begrüßt. Viel wurde untereinander gewünscht.

Vom Glockenstuhl unser St. Marien erschallte Posaunenmusik. Es klangen an unser Ohr die Weisen: „Das alte Jahr vergangen ist, wir danken dir Herr Jesu Christ“ und „Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen.“ Alle 4 Glocken läuteten das neue Jahr ein. Gegenseitig wünschten sich alle, mit Küßchen, ein frohes, gesundes und glückliches neues Jahr. Wieder gab es ein Jahr, lang, dasselbe mit Leben zu erfüllen.